Windkraftanlagen kennen wir bisher vor allem als jene grauen, hohen Türme, an welchen ganz oben ein Windrad dreht. Die Anlagen produzieren primär Strom für das Netz und werden vor allem auf dem Festland eingesetzt. Zwei Start-ups aus der Schweiz bringen frischen Wind in die Technologie. Mit zwei neuen, aber völlig unterschiedlichen Produkten wollen die Firmen Agile Wind Power AG und TwingTec AG die Stromproduktion aus Wind für dezentrale Gebiete und den mobilen Anwendungsbereich stark machen.
Text: Alina Schönmann
Bereits seit elf Jahren verfolgt Patrick Richter mit der Firma Agile Wind Power AG die Idee, bei Windkraftanlagen die Rotorblätter nicht um eine horizontale, sondern senkrecht angeordnet um eine vertikale Achse drehen zu lassen. Die Idee ist an sich nicht neu. Doch die bisherigen Anlagen nach diesem Prinzip waren ausschliesslich Kleinanlagen. Die Bauform lässt sich nun, dank einer neuen kontinuierlichen Steuerung der Rotorblätter die Richter und sein Team entwickelt haben, erstmals wirtschaftlich skalieren.Eine andere Idee hatten nur wenige Jahre später Rolf Luchsinger, CEO der TwingTec AG, und sein Team. Grundlage ist, dass der Wind in höheren Lagen stärker und konstanter bläst und deshalb für die Energiegewinnung vielversprechender ist. Würde man allerdings ein konventionelles Windrad in diese Höhe bauen, wäre der Materialverschleiss für den Turm riesig. Deshalb sieht TwingTecs Lösung ganz anders aus als ein Windrad: Eine mobile Bodenstation enthält eine Winde mit einem Seil, an dem eine Art Drohne auf vorprogrammierten Flugbahnen fliegt. Der Prototyp des sogenannten «Twing» fliegt in ungefähr 300 Metern Höhe wie ein Drache, angetrieben vom Wind. Durch das Ab- und Aufwickeln des Seils an der Spule wird schlussendlich Strom produziert.
Dezentrale Energieversorgung
Der erste Prototyp der Agile Wind Power AG, der seit 2019 auf einem Windtestfeld in Deutschland steht, hat eine Leistung von 750 kW und ragt 105 Meter in die Höhe. Die Leistung des Prototyps ist deutlich kleiner als bei einer zeitgemässen konventionellen Windturbine, deren Performance bei 4 bis 5 MW liegt. Dies sei aber kein Nachteil, erläutert Patrick Richter, denn «die Anlagen sind für den dezentralen Bereich zur Eigenstromproduktion vorgesehen». Damit eignet sich der «Vertical Sky» für die Stromversorgung von Unternehmen oder für Quartiere mit bis zu 600 Haushalten und ist eine ideale Ergänzung zu Solaranlagen. Denn der Wind bläst meist dann, wenn die Sonne weniger scheint. Richter zählt im Gespräch mit dieser Zeitschrift die vielfältigen Vorteile auf: «Die Lärmemissionen sind mit 85 dB rund dreimal kleiner als bei einem konventionellen Windrad. Zudem können die Rotorblätter von Vögeln und Fledermäusen besser erkannt werden. Die geringeren Auswirkungen auf die Umwelt ermöglichen die Nutzung neuer Standorte, die bisher mit der konventionellen Windenergietechnologie nicht bedient werden konnten.»
Ambitiöses Pilotprojekt
Auch die Firma TwingTec testet bereits ein Pilotprojekt. Die Anlage hat eine Leistung von 10 kW. Dies mag im Vergleich zum Vertical Sky nach wenig klingen. Allerdings ist dieser Prototyp noch nicht für die Serienproduktion gedacht. Beim Twing handelt es sich ausserdem um eine völlig neue Idee, entsprechend muss mit einem kleineren Produkt in einem ersten Schritt wichtige Vorarbeit geleistet werden. Weil das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt, gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse über die Umwelteinflüsse der Anlage. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die akustischen Emissionen tendenziell geringer sind als bei konventionellen Windrädern. Auch kann davon ausgegangen werden, dass der Twing, der ein bisschen wie ein grosser Raubvogel aussieht, von Vögeln und Fledermäusen besser als Gefahr erkannt wird als konventionelle Windräder. Die grössten Vorteile können allerdings schon mit Sicherheit bestätigt werden, wie Luchsinger mitteilt: «Die Anlage von TwingTec verbraucht rund 90% weniger Material, weil kein Turm und kein Fundament gebaut werden muss, und sie operiert in grösserer Höhe, wo der Wind stärker bläst und damit mehr Energie geerntet werden kann.»
Als erstes Serienprodukt ist in zwei bis drei Jahren eine 100-kW-Anlage geplant. Der Einsatz ist nach Luchsinger an Orten ohne elektrisches Netz vorgesehen: «An diesen Orten wird der Strom meistens noch mit Dieselanlagen produziert. Die mobile 100-kW-Anlage eignet sich somit zum Beispiel optimal für Inseln oder abgelegene Siedlungen.»
Vorfall verzögert die Serienproduktion
Im Moment steht der Vertical Sky der Agile Wind Power AG kurz vor der Serienreife. Der geplante Start wurde jedoch durch einen Vorfall im Herbst 2020 verzögert, bei dem ein Rotorarm gebrochen ist. Wie Patrick Richter ausführt, zeigen die aufgezeichneten Daten der Windmessungen, dass ein seltenes Windereignis zum Schaden an der Anlage führte. «Vereinfacht gesagt handelte es sich um eine starke und turbulente Böe, die mit einer plötzlichen Windrichtungsänderung einherging.» Dieses Windereignis kommt bisher in der Zertifizierungsnorm nicht vor. Die nun nachträglich durchgeführten Berechnungen belegen, dass die Windsituation den Windturbinentyp bei verschiedenen Betriebszuständen beschädigen kann. Die Untersuchungen des Vorfalls haben aber auch aufgezeigt, dass gleiche und ähnliche Vorkommnisse mittels einfacher Massnahmen verhindert werden können, ohne dass die materielle Struktur des Windrads verändert werden muss. Damit der Betrieb weitergeführt werden kann, muss der Rotor repariert werden. Wegen einer Lieferfrist einzelner Teile von zehn Monaten verschiebt sich der Start der Serienproduktion entsprechend nach hinten. Auch wenn dieser Rückschlag schmerzt – mit dem Vorfall konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen und die Anlage entsprechend verbessert werden.
Konkurrenzfähige Stromgestehungskosten
«Die Stromgestehungskosten der ersten Serienanlagen werden bei 6–8 Eurocent pro kWh liegen, je nach Projektstandort und verfügbarer Windmenge», führt Richter aus. Der Projektpreis variiert, da er abhängig vom Standort und von den damit verbundenen unterschiedlichen Gegebenheiten (z. B. Bodenbeschaffenheit oder Standorterschliessung) ist. In einem ersten Schritt richtet sich das Produkt an Länder der Europäischen Union und Nordamerikas. Richter verdeutlicht anhand eines Beispiels in Deutschland den Vorteil: «Ein Industriebetrieb bezahlt für den Strom durchschnittlich 21 Eurocent pro kWh.» Die Stromgestehungskosten mit Vertical Sky liegen entsprechend tiefer, was zu Einsparungen bei den Stromkosten führt und das Produkt deshalb für diesen Bereich sehr attraktiv macht.
Auch die Stromgestehungskosten des Twing hängen vom Standort ab – insbesondere von der verfügbaren Windmenge und von der Grösse der Anlage. Dabei haben grössere Anlagen kleinere Stromgestehungskosten. Für das erste Serienprodukt mit einer Leistung von 100 kW liegen die Kosten bei 10–20 Rp. pro kWh. Wenn man dies mit den Gestehungskosten für Dieselgeneratoren im Offgridmarkt vergleicht, die zwischen 20 und 30 Rp. pro kWh liegen, wird durch den Twing, wie auch durch den Vertical Sky, nicht nur die Umwelt geschont, sondern auch das Portemonnaie entlastet.
Ambitiöse Zukunftsaussichten
Langfristig strebt die Agile Wind Power AG eine Vergrösserung der Anlage bis zu einer Leistungskapazität von ca. 2 MW an, eine Grösse, die im dezentralen Bereich immer noch sinnvoll ist und damit nicht in Konkurrenz zu konventionellen Windanlagen steht.Auch TwingTec hat nicht vor, die bisherigen Windräder zu konkurrenzieren. Nach der 100-kW-Anlage ist in ca. fünf Jahren eine 500-kW-Anlage geplant. In dieser Grösse ist das System immer noch in Schiffscontainern transportierbar und eignet sich deshalb beispielsweise für temporäre Baustellen oder Minen. Langfristig ist eine 3-MW-Anlage vorgesehen, deren Strom dann wie bei Windrädern direkt ins elektrische Netz eingespeist wird. Mit dieser Grösse liesse sich ein Gebiet erschliessen, das heute kaum für die Stromproduktion genutzt wird: die Weltmeere. «Die konventionellen Windanlagen auf dem Meer haben den Nachteil, dass der Turm mit einem Fundament im Boden fixiert werden muss, und sie somit nur in seichtem Wasser in Küstennähe wirtschaftlich betrieben werden können», führt Luchsinger aus. «Da unser Produkt keinen Turm hat, kann es auf schwimmenden Plattformen installiert werden.»