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Energiewende im Wartesaal : «Es ist zum Verrücktwerden»

Das Warten auf rasche Fortschritte beim Ausbau der Solarenergie bringt manche Beteiligte zuweilen zur Verzweiflung. Fotomontage: Beat Kohler

Im neu erschienenen Buch ­«Energiewende im Wartesaal» ­beleuchtet Energieexperte und alt SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner detailliert, warum sich die Schweiz so schwertut mit dem Ausbau der neuen erneuerbaren Energien und im innereuropäischen Vergleich ­regelmässig zu den Schlusslichtern gehört. Er zeigt auf, wie die ­Rahmenbedingungen angepasst werden ­können, damit sich dies ändert, und ­warum der solare Weg auch für die Schweiz der richtige ist. Im Interview fordert er die Solarbranche auf, aktiver auf die Politik zuzugehen.

Beat Kohler: Sie zeigen in Ihrem Buch auf, dass es die Photovoltaik in der Schweiz in der Vergangenheit sehr schwer hatte. Worauf führen Sie das zurück?

Rudolf Rechsteiner: Die Ausbauziele ab 2012 waren viel zu klein. Man wollte die Photovoltaik willentlich blockieren. Der Bundesrat hatte Angst vor den Preissenkungen am Mittag, bei Sonnenschein, das schade der Wasserkraft. Und 2019 stoppte das Bundesamt für Energie alle Einspeisevergütungen auf eigene Faust, ohne eine neue Finanzierung für Anlagen ohne Eigenverbrauch zu liefern. Das Gesetz diskriminiert die Photovoltaik systematisch. Niemand klärt die Bevölkerung darüber auf, dass neuer Solarstrom halb so teuer ist wie neue Wasserkraft. Gleichzeitig fehlt jegliche Sicherheit bei den Rückliefertarifen, während neue Wasserkraftwerke eine kostendeckende Vergütung erhalten, die über sehr hohe Investitionsbeiträge und zusätzlich über die Stromtarife der gebundenen Kunden finanziert wird.

Zur Person

Rudolf Rechsteiner(62) ist Ökonom und war als Basler SP-Nationalrat (1995–2010) massgeblich an der Einführung der kostendeckenden Einspeisevergütung für Strom aus erneuerbaren Energien beteiligt. Er ist Lehrbeauftragter für erneuerbare Energien an der Universität Basel und an der ETH Zürich. Er amtiert seit 2010 als Verwaltungsrat der Industriellen Werke Basel (IWB) und war zuvor ­Präsident der ADEV-Energiegenossenschaft (Liestal [BL]). Dies ist der erste Teil eines längeren Interviews, der zweite Teil wird in der EE-Ausgabe 5/2021 im Oktober erscheinen.

Können Sie anhand eines Beispiels zeigen, wie das BFE die Photovoltaik ins Leere laufen lässt?

Bis zu 50 000 Projekte wurden zeitweise auf der Warteliste blockiert. Das Gesetz sah das so vor, als die PV-Kosten noch sehr hoch waren. Aber dann wurde weiter blockiert, auch noch, als PV längst billiger war als alle anderen Techniken. Aber die Blockade durch das BFE geht noch viel ­tiefer und ist systemisch: Das Bundesamt liess in der neuen Prognos-Studie (Energieperspektiven 2050+) die Kosten für Solarstrom vom Paul Scherrer Institut (PSI) manipulieren und setzte sie – auch für Grossanlagen – bei «10 bis 15 Rappen pro kWh» an. Niemand klärt auf, dass Grossanlagen inzwischen für 5 bis 7 Rappen liefern, und an geeigneter Lage auch viel Winterstrom. Das BFE setzt extrem auf Wasserkraft und Pumpspeicherwerke, obschon dieses Zusatzpotenzial sehr gering und die Landschaftskonflikte sehr gross sind. Photovoltaik – ab 2030 kombiniert mit Batterien – kann viel billiger Winterstrom liefern als neue Wasserkraftwerke, die sowieso blockiert werden, aus anständigen Gründen übrigens.

Welchen Einfluss hat die zögerliche Politik auf die Solarbranche?

Die Solarbranche hat jahrelang schwer gelitten und wurde von den Gegnern der erneuerbaren Energien zusammengestaucht. Die Neuinstallationen stagnierten von 2013 bis 2019, während die Preise brutal und immer weiter absanken. Simonetta Sommaruga hat ab 2019 einen Kurswechsel eingeleitet. Die Wartelisten wurden schneller abgebaut. Aber die Versäumnisse sind schwerwiegend. Die raumplanerischen Lösungen wurden vernachlässigt. Das Fördermodell mit Investitionsbeiträgen ist nachweislich unnötig teuer im Vergleich zu den Auktionen mit gleitenden Marktprämien im benachbarten Ausland. Das BFE lieferte keine einzige Studie, die diese erfolgreichen Modelle für die Schweiz adaptiert hätte. Das ganze Amt wirkte auf mich lange wie gelähmt.

Inzwischen wurde das grosse Potenzial der Photovoltaik auch vom BFE erkannt. Warum bleibt das Bundesamt bei seinen Ausbauzielen so zurückhaltend, wie Sie es in ­Ihrem Buch beschreiben, und setzt seit Neustem auf ­verlängerte Laufzeiten für alte Atomkraftwerke?

Das müssen Sie grundsätzlich das BFE fragen. Es ist so, dass die Kommunikationschefin des BFE, Marianne Zünd, vor Kurzem öffentlich für verlängerte Laufzeiten für alte Atomkraftwerke plädierte. «Die Realität hat die bisher unterlegten 50 Jahre überholt», sagte sie gegenüber der «NZZ am Sonntag». Diese Forderung nach einer Verlängerung ist aus meiner Sicht nicht nur dumm, weil sie zu neuen Entschädigungsforderungen führen kann, sondern auch sehr gefährlich.

Das BFE setzt auch weiterhin massiv auf die Wasserkraft. Wie erklären Sie sich das?

Ich stelle zum Beispiel fest, das an der Spitze des BFE zwei Walliser stehen. Der Kanton Wallis hat fast zeitgleich mit der Ankündigung des Mantelerlasses Ausbaupläne von drei bis vier Milliarden Franken für die Wasserkraft veröffentlicht. Ist das ein Zufall? Oder läuft da einiges hinten rum? Solche Fragen stelle ich mir schon. Was ist an diesen Plänen zum Ausbau der Wasserkraft falsch?Diese neuen Wasserkraftanlagen sind viel teurer als neue, richtig auktionierte Photovoltaik und auch viel teurer als die Marktpreise in Europa. Innerhalb des BFE ist die Abteilung Photovoltaik seit Jahren unterdotiert, um die gestellten Aufgaben zu lösen. Man hat es versäumt, grosse Pilotanlagen für Winterstrom zu finanzieren; das Axpo-Projekt am Muttsee wurde nicht als Leuchtturmprojekt anerkannt. Stattdessen wird die Geothermielobby mit Geld überschüttet: 90 Millionen für eine Pilotanlage im Jura, die energiepolitisch wertlos ist und vom Kanton abgelehnt wird. Die Geothermielobby der ETH hat bessere Karten als die kleinen Solarinstallateure. Aber die Solarinstallateure haben ein Produkt, das funktioniert, auch für den Winterbedarf, im Gegensatz zum «Geothermie-Stromphantom». Es wurden Hunderte Millionen ohne Ergebnis versenkt, es reicht. Sehen Sie bei der Akzeptanz in der Politik einen Wandel in den vergangenen Jahren? Immerhin fordert inzwischen sogar der Präsident der ElCom, Werner Luginbühl, eine Verfünffachung des Ausbaus bei der Photovoltaik.Ja. Die ElCom hat sehr gut gearbeitet und konsequent auf die Mangellage hingewiesen, in die uns das BFE hineinmanövrieren will. Das Ziel des BFE ist offensichtlich, die Verlängerung der Laufzeiten der alten Atomkraftwerke zum neuen Sachzwang zu erklären. Selbst die grossen Stromkonzerne verlangen nun aber gute Rahmenbedingungen für Solarstrom. Die alten Atomkraftwerke sind ein Klumpenrisiko für die Versorgungssicherheit.

Wo müsste man ansetzen, damit diese verbesserte ­Akzeptanz auch zu verbesserten Rahmenbedingungen führt?

Der Schlüssel liegt im Parlament. Die parlamentarische Initiative Girod wurde mit 187 gegen 3 Stimmen verabschiedet. Das ist eine überparteiliche Rebellion gegen die Verweigerungspolitik des Bundesrates und des BFE. Sie stimmt mich zuversichtlich. Sagt der Ständerat Ja, könnte manches schon ab 2022 besser werden. Vor allem könnte der Zubau von Winterstrom mit entsprechenden Auktionen für PV sofort beginnen und dann gesteigert werden. Und auch die Wasserkraft kommt nicht schlecht weg, denn bei der Modernisierung der bestehenden Werke besteht unbestritten noch Potenzial.

Zum Buch

Die Energiewende im WartesaalDas Buch beschreibt den Stand der Energiewende in der Schweiz und zeigt, wie sich das Land sicher, kostengünstig und unter Schonung von Natur und Landschaft vollständig aus erneuerbaren Energien versorgen kann. Weltweit sind Solar- und Windenergie auf Siegeszug. Sie ermöglichen die doppelte Energiewende: weg von Erdöl, Erdgas und Kohle und raus aus der Atomenergie. Die neuen Technologien sind nicht nur sauberer, sondern auch kostengünstig. Allerdings stehen zu viele bürokratische Hürden dem Ausbau im Weg. Unter den reichen Ländern Europas ist die Schweiz ein Nachzügler. Dieses Buch analysiert, wie es so weit gekommen ist, und zeigt einen neuen, spezifischen «Schweizer Weg». Die Umstellung auf sauberen Strom, Wärmepumpen und elektrische Fahrzeuge ist ein Kraftakt. Er gelingt, wenn vernünftige Menschen über die Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten. Auf dem Spiel steht die international gut vernetzte Elektrizitätsversorgung des Landes, die in Notfällen unabhängig vom Ausland funktionieren muss. Dieses Buch zeigt einfach und verständlich, wie das gehen kann.
Verlag zocher & peter ISBN: 978-3-907159-38-5
Autor: Rudolf RechsteinerCo-Autoren: Ruedi Meier, Urs Muntwyler, Felix Nipkow, Thomas Nordmann Mit Karikaturen von Ruedi Widmer
Herausgegeben von der Schweizerischen Energie-Stiftung SES

Wie beurteilen Sie den Mantelerlass des Bundesrates?

Der Mantelerlass ist für alle Beteiligten noch unbefriedigend. Die Wasserkraft wird privilegiert, die Photovoltaik soll auf einem Zubauniveau von 700 MW pro Jahr bis 2035 zur Stagnation verurteilt werden. Die Einführung von Batterien als Speicher wird benachteiligt und behindert, sehr kontraproduktiv! Die Ausbauziele sind viel zu klein für eine gute Versorgungssicherheit, die nach dem Scheitern des EU-Rahmenabkommens wichtig wäre. Die Rückliefertarife sind ungelöst, stattdessen zieht der Bundesrat die Marktöffnung ohne flankierende Massnahmen durch. Der PV-Branche würde so der Teppich unter den Füssen weggezogen.

Sie haben sich doch früher für eine Marktöffnung ausgesprochen?

Ich war immer ein Befürworter der Marktöffnung, aus energiewirtschaftlichen Gründen. Aber nicht ohne flankierende Massnahmen. Auch die geplante Zulassung höherer Grundpreise wäre verhängnisvoll für die Solarbranche. Sie dürfen dann zwar eine PV-Anlage bauen, aber die Stromrechnung bleibt immer gleich hoch, wenn die Netzgebühren pauschal verrechnet werden. Verrückt. In Gesprächen mit BFE-Leuten musste ich feststellen, dass manche den Inhalt der eigenen Revisionsvorschläge gar nicht verstanden haben. Die Linke weiss nicht, was die Rechte tut.

Wie müsste der Strommarkt umgestaltet werden, damit PV nicht weiterhin vernachlässigt wird?

Wir sollten wie in Österreich ins Gesetz schreiben, dass der Stromverbrauch im Jahresdurchschnitt vollständig aus erneuerbaren Energien gedeckt wird, am besten bis 2030 oder 2035. Das ist auch für die Konsumentinnen und Konsumenten billiger als der Plan des BFE, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu verlängern und nochmals neues Geld in alte Anlagen zu stecken. Die Solarenergie kann billig liefern, die Bauzeiten sind kurz. Es braucht aber dringend vereinfachte Bewilligungsverfahren, wie für die Solardächer sollte für alle Anlagen auf «toter Fläche» ein qualifiziertes Meldeverfahren genügen. Die Mehrausgaben für uralte Atomkraftwerke können wir uns dann sparen. Was muss die Solarbranche tun, damit sie besser gehört wird?Macht eine Demo in Bern gegen die permanente Diskriminierung von Solarstrom! Spass beiseite: Die Solarbranche sollte eine wettbewerbliche Vergabe der Milliarden aus dem Netzzuschlag verlangen. Solarstrom ist halb so teuer wie alles andere! Die Installateure müssen der Bevölkerung die tiefen Kosten von Grossanlagen aufzeigen; es braucht in jedem Kanton gute Öffentlichkeitsarbeit, denn PV, Wasserkraft, Batterien und Energieeffizienz können gemeinsam die nicht erneuerbaren Energien ersetzen, zusammen mit Biomasse und Windenergie. Die Solarbranche muss sich besser organisieren und sollte in jedem Kanton Volksinitiativen lancieren, damit qualifizierte Anlagen an Fassaden bewilligungsfrei und Solardächer obligatorisch werden, wie in Basel-Stadt. Und die Kantone sollen für die Nutzung von öffentlichen Flächen einen kleinen Solarzins einführen, zum Beispiel 0,5 Rp./kWh. Das braucht es einfach für die Akzeptanz. Wird die Nutzung von Dach- und Fassadenflächen ausreichen, oder braucht es noch mehr, um die Ausbauziele zu erreichen?Es ist wichtig, dass man die «tote Fläche» nutzt, überall, wo es Sinn macht, bevor Freiflächenanlagen kommen, sonst wächst der Widerstand sehr schnell. Grossanlagen entlang von Bergstrassen, auf Stauseen, als Zäune, auf Dächern und Fassaden, an Lärmschutzwänden oder vertikal gestellte bifaziale Anlagen in der freien Fläche als geschütztes Biotop und für Ausgleichsflächen inmitten von Monokulturen. Umweltorganisationen und Bauernverbände sollten zusammensitzen. PV-Anlagen können etwas für die Biodiversität leisten, wenn man es richtig macht. Wir stehen da noch ganz am Anfang, weil das Neuland ist.

Ist da neuer Widerstand nicht programmiert?

Das Bundesamt für Umwelt macht inzwischen Rekurse gegen Windkraftanlagen, legt aber kein Konzept für integrierte Photovoltaik vor. Es ist zum Verrücktwerden. Wir müssen die Anreize endlich auf PV und auf Winterstrom ausrichten und viel mehr zubauen, besonders an unkonventionellen Standorten wie an Bergstrassen, Autobahnen oder auf Stauseen, damit auch bei den Montagesystemen die Lernkurve durchschritten wird und die Kosten sinken. Und wir müssen die Menschen für uns gewinnen, darum braucht es den Solarzins.

Was kann Ihr Buch dazu beitragen, damit in der Schweiz die Photovoltaik neu bewertet wird?

Wir haben versucht, alle relevanten Aspekte zu erklären. Es ist mein viertes Buch zum Thema in den letzten 30 Jahren, meinem langen Marsch. Aber wir stehen jetzt kurz vor dem Ziel, denn das Wachstum von Sonnen- und Windenergie verläuft exponentiell. Wenn die Schweiz den Ausbau nicht durchsetzt, werden die Kapazitäten für die Schweiz automatisch in den Nachbarländern aufgebaut und die alten Atomkraftwerke aus dem Markt werfen wie in den USA. Die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ist kein technisches Problem. Sie ist billiger als alles Bisherige. Es ist das Parlament, das eine gute Entwicklung verhindert hat, aber heute sind neue Köpfe im Amt. Heute nimmt niemand mehr die manipulierten Kostenangaben des BFE ernst, wonach Solarstrom «10 bis 15 Rappen pro kWh» kosten soll, selbst aus Grossanlagen. Bei den Stromfirmen gibt es viele neue Kräfte, die den Wettbewerb spüren und sich mit neuen Techniken positionieren wollen.

www.rechsteiner-basel.ch