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Die Energiewende im Maghreb ist auch eine Chance für Europa

Bild: SENER engineering and technology group

Der Maghreb hat hervorragende Voraussetzungen für eine nachhaltige Energieproduktion. Mittelfristig könnte er sogar Europa mit sauberem Strom versorgen und so auch die europäische Energiewende unterstützen. Doch einzig Marokko hat die Zeichen der Zeit erkannt und bereits beachtliche Fortschritte erzielt. In den anderen Maghrebstaaten besteht noch grosser Nachholbedarf.

Text: Beat Stauffer

Seit einigen Jahren werden in Marokko riesige solar­thermische Kraftwerke, Windfarmen sowie Photovoltaik­anlagen gebaut. Unzählige Industriebetriebe, Hotels, Spitäler wie auch private Nutzer installieren Solarpanels, um sich autonom mit Elektrizität zu versorgen.
Diese Entwicklung ist auch für Europa von grosser Bedeu­tung. Denn der massive Ausbau erneuerbarer Energien im Norden Afrikas könnte massgeblich zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zum wirtschaftlichen Aufschwung und damit auch zur Stabilisierung der gesamten Region beitragen. Längerfristig könnte der Maghreb, sofern die politischen Verhältnisse stabil bleiben, sogar Europa mit sogenannt grünem – also aus erneuerbaren Energien gewonnenem – Wasserstoff versorgen. Die meisten Experten sind sich einig, dass der Umbau der Wirtschaft innerhalb der EU in Hinblick auf eine klimafreundliche Produktion bis im Jahr 2050 ohne Stromimporte aus dem Maghreb und dem Nahen Osten nicht möglich sein wird. Zudem wird immer deutlicher, dass sich der weltweite Klimawandel ohne grüne Elektrifizierung Afrikas nicht eindämmen lassen wird.
Für die Maghrebstaaten selbst spielt die Förderung erneuerbarer Energien eine wichtige Rolle, besonders für Tunesien und Marokko, die nur über geringe Erdöl- und Erdgasvorkommen verfügen. Denn der Import von fossilen Energien und deren Subventionierung für die Konsumenten verschlingen einen erheblichen Teil des staatlichen Budgets. Aber auch in den mit fossilen Energien reich gesegneten Staaten wie Algerien und Libyen, deren Einnahmen fast ausschliesslich vom Export von Erdöl und Erdgas abhängen, setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass es unsinnig ist, das fossile «Tafelsilber» innert weniger Jahrzehnte zu verschleudern.
Vor allem aber sind die geografischen und meteorologischen Voraussetzungen, um den Energiebedarf in Zukunft auf nachhaltige Weise zu decken, im Maghreb ausgezeichnet: Alle Länder am Südrand des Mittelmeers zeichnen sich durch eine sehr hohe jährliche Sonneneinstrahlung aus sowie durch riesige und grösstenteils unbewohnte Steppen-, Halbwüsten- und Wüstengebiete. Viele Regionen des Maghreb eignen sich zudem gut für Windenergieanlagen.

Grüner Wasserstoff für den Maghreb und für Europa

In den vergangenen Jahren ist zunehmend die Produktion von grünem Wasserstoff in den Vordergrund gerückt. Nur der mit erneuerbarer Energie hergestellte Wasserstoff darf sich mit diesem Prädikat schmücken. Die Elektrolyse, mithilfe derer Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten wird, muss dabei mit lokal erzeugtem, sauberem Strom betrieben werden. Dieses Verfahren benötigt allerdings viel Energie, und der so gewonnene Wasserstoff ist als Energiequelle bis heute preislich noch nicht konkurrenzfähig.
Der grüne Wasserstoff liesse sich mithilfe spezieller Schiffe, aber auch in Pipelines, die für den Transport von Erdgas konzipiert wurden, exportieren. Bei der Herstellung von Stahl, aber auch in der chemischen Industrie könnte Wasserstoff fossile Energien ersetzen. Europa hat deshalb ein grosses Interesse daran, grünen Wasserstoff aus Nordafrika und aus anderen Ländern zu importieren.
Verschiedene Organisationen – neben der Dii auch die International Renewable Energy Agency (IRENA) – haben Strategien einer Zusammenarbeit mit Ländern des Südens entwickelt. In Marokko ist IRENA dabei auf offene Ohren gestossen; das Land will zu einem wichtigen Produzenten und Exporteur von grünem Wasserstoff werden. Zu diesem Zweck ist in der Stadt Ben Guerir in der Nähe von Marrakesch das Forschungsinstitut Iresen gegründet worden. Die Deutsch-Marokkanische Wasserstoffallianz, ein wichtiger Teil der Energiepartnerschaft zwischen den beiden Staaten, ist allerdings zurzeit aufgrund politischer Spannungen blockiert. Das grösstenteils von Deutschland finanzierte Projekt im Umfang von über 300 Millionen Euro ist damit vorderhand auf Eis gelegt; stabile und verlässliche Beziehungen sind auch im Bereich der erneuerbaren Energien unverzichtbar. (bst)

Pionier Marokko

Während Staaten wie Algerien oder Tunesien, auch wegen der instabilen politischen Lage, erst zaghaft begonnen haben, neue Energien zu fördern, kommt Marokko eine Pionierrolle zu. Dort steht heute das weltweit grösste Solarwärmekraftwerk, NOOR 1, im Süden des Landes bei Ouarzazate, mit einer installierten Leistung von 160 MW und einer Jahresproduktion von 370 GWh. Zum Vergleich: Das Kraftwerk Birsfelden, das grösste Schweizer Flusskraftwerk, produziert pro Jahr im Mittel 580 kWh und liefert fast 20% des Strombedarfs der Agglomeration Basel. Mit den Ausbaustufen NOOR 2 und 3 soll der Kraftwerkskomplex über eine Leistung von 510 MW verfügen.
Die politisch Verantwortlichen haben in Marokko schon früh begonnen, auf erneuerbare Energien zu setzen. Bereits 1982 gründete der damalige König Hassan II. ein Zentrum für die Erforschung von erneuerbaren Energien (CDER), das etwa über die Möglichkeiten forschte, die Zehntausenden von Hammams im Land mit Solarenergie zu heizen, um dem enormen Verbrauch an Brennholz entgegenzuwirken. Das Zentrum wurde aktiv von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammen­arbeit (GIZ) unterstützt.
2009 gründete der heutige König Mohamed VI. die staatliche Moroccan Agency for Solar Energy, kurz MASEN. Diese entwickelte einen weitsichtigen «Solarplan». Bereits fünf Jahre später konnte bei Tarfaya am südlichen Atlantik ein riesiger Windenergiepark mit einer installierten Leistung von 300 MW in Betrieb genommen werden. Ende 2015 ging die erste Etappe des Kraftwerks NOOR 1 ans Netz. Weitere Solarfarmen und Windparks folgten. Gegenwärtig erzeugt Marokko rund 35% der im Land verbrauchten Elektrizität mit erneuerbarer Energie – und ist damit mit Abstand führend im Maghreb.

Nicht eitel Freude

Allerdings herrscht in Marokko bezüglich der Nutzung erneuerbarer Energien nicht eitel Freude. In den vergangenen Monaten sind einige Probleme im Zusammenhang mit dem Umbau der marokkanischen Energieversorgung an die Öffentlichkeit gelangt. So liegen etwa die Produktionskosten pro Kilowattstunde solarthermisch erzeugter Energie deutlich über dem Verkaufspreis für die Konsumenten. Laut einem Bericht des staatlichen Wirtschaftsrats Conseil économique, social et environnemental (CESE) verursacht allein das solarthermische Kraftwerk NOOR in Ouarzazate jährliche Verluste in der Höhe von 75 Millionen Euro. Diese werden von den marokkanischen Steuer­zahlern getragen. Die Betreiberfirmen verfügen hingegen über feste Abnahmeverträge und können Gewinne einfahren. Dies ist besonders brisant, weil die Königs­familie via ihre Holding Nareva beziehungsweise die Société nationale d’investissement (SNI) am Konsortium beteiligt ist, das die Anlage betreibt.
In der öffentlichen Debatte um diese Defizite meldete sich auch der Palast mit einer kritischen Stellungnahme zu Wort. In den Fokus geriet vor allem MASEN-Direktor Mustapha Bakkoury. Er habe in Ouarzazate mit der solarthermischen Anlage mit Salzspeicher (Concentrated Solar Power [CSP]) auf die falsche Karte gesetzt. Diese Technologie ist mittlerweile sehr viel teurer als Photovoltaik oder Windenergie. Gegen Bakkoury wurde aber auch ein Strafverfahren wegen ungetreuer Geschäftsführung eröffnet und im Frühjahr gar ein Ausreiseverbot verhängt. Paul van Son, Präsident des Thinktanks Dii Desert Energy, ist allerdings überzeugt davon, dass Bakkoury einen «ausgezeichneten Job» für sein Land gemacht habe. Niemand habe vor zehn Jahren die rasanten globalen Entwicklungen bei der Photovoltaik- und der Windtechnologie im Vergleich zur Solarthermie vorhersehen können. Es sei zudem denkbar, ergänzt Aeneas Wanner, Leiter von Energie Zukunft Schweiz, dass thermische Salzspeicher, um den tagsüber produzierten Strom zu speichern, mittelfristig durchaus Vorteile gegenüber Batterien haben könnten.
Wie in vielen europäischen Staaten braucht es auch in Marokko eine «Anschubfinanzierung» für die Umstellung der Stromproduktion auf erneuerbare Energien. Die Defizite, die zurzeit von den Steuerpflichtigen getragen werden, beinhalten allerdings sozialen Sprengstoff. Dennoch sind Proteste gegen die staatliche Energiepolitik bis anhin nur verhalten zu vernehmen. Den Grund sehen In­sider vor allem darin, dass der Palast direkt an den gros­sen Solar- und Windfarmen beteiligt ist.

Untätige Nachbarn

In den beiden anderen bedeutenden Maghrebstaaten Algerien und Tunesien kommt der Ausbau erneuerbarer Energien hingegen nur schleppend voran. Für Paul van Son ist dies «enttäuschend», weil das Potenzial in diesen beiden Ländern ebenfalls vorhanden wäre. Die Gründe für den Rückstand sind vielfältig. In Tunesien setzte die Politik nach den Erschütterungen der Revolution schlicht andere Prioritäten. Die staatliche tunesische Energiegesellschaft STEG habe viele Probleme, etwa veraltete Anlagen, analysiert van Son. «Sie hat die Kraft nicht gezeigt, die nötig ist, um eine solche Wende durchzuziehen.» Zurzeit gebe es zwar kleinere Projekte, die funktionierten, sagt van Son, aber leider habe sich «nichts Grösseres» getan.
Auch beim weitaus grösseren und wohlhabenderen Nachbarn Algerien sind bis anhin nur zaghafte Schritte zur Förderung erneuerbarer Energien unternommen worden. Der Überfluss an fossiler Energie und vor allem die Macht des staatlichen Energiemonopolisten Sonatrach scheint die Entwicklung blockiert zu haben. «Diejenigen, die die Wende machen wollen, fühlen sich wie gelähmt», sagt van Son. «Je stärker die alten Oligopolisten, desto schwieriger haben es die erneuerbaren Energien», ergänzt Wanner. Van Son diagnostiziert aber sowohl in Algerien wie auch in Tunesien vor allem das Fehlen von Weitsicht und einer «klaren Leadership». Wenn diese bei den obersten Verantwortlichen vorhanden sei, dann setze ein Land unweigerlich auf erneuerbare Energien. Genau dies sei in Saudi-Arabien, in den Golfstaaten und auch in Ägypten geschehen. Diese Staaten seien zurzeit Weltleader im Zubau erneuerbarer Energien.
Auch in Libyen ist aus nachvollziehbaren Gründen kaum etwas passiert. Allerdings würden dort immer mehr private Photovoltaikanlagen installiert, sagt van Son. Die dezentrale Energieversorgung und vor allem die Einspeisung ins Netz sind nach Analyse der beiden Experten sodann im gesamten Maghreb noch längst nicht zufriedenstellend. Auch in diesem Bereich ist Marokko führend. So ist geplant, auf den Dächern sämtlicher Moscheen des Landes Solarpanels zu installieren.

Was ist von der Desertec-Idee geblieben?

Die Nutzung erneuerbarer Energien im grossen Massstab wäre in Nordafrika ohne die Desertec-Vision nie möglich gewesen. Und auch diese hatte wiederum eine Vorgeschichte: Eine Reihe von Persönlichkeiten aus dem Umfeld des Club of Rome gründete im Jahr 2003 die Trans-Mediterranean Renewable Energy Cooperation (TREC). Aus diesem Netzwerk von visionären Wissenschaftern und Forschern wurde die Idee entwickelt, in den Wüstenregionen des Maghreb und des Nahen Ostens im grossen Stil Solarenergie zu gewinnen und diese auch nach ­Europa zu exportieren. Im Jahr 2009 wurde die gemeinnützige Stiftung Desertec mit Sitz in Hamburg gegründet. Für die praktische Umsetzung dieser Ziele wurde wenig später die Desertec Industrial Initiative (Dii) gegründet, eine GmbH, der namhafte Unternehmen aus der Energiebranche – etwa Siemens, ABB und RWE – sowie Banken angehörten. Heute nennt sich die Organisation Dii Desert Energy und versteht sich als Wegbereiterin für die Energietransition.
Verschiedene Probleme, unterschiedliche Interessen und Sichtweisen zwischen den mehrheitlich europäischen Initianten und den Ländern, in denen Projekte realisiert werden sollten, – etwa in Tunesien oder in der Golf­region – führten einige Jahre später zu einer offenen Krise. Der neue Fokus auf die lokale Versorgung, der zunehmend in den Vordergrund rückte, passte nicht mehr zur Strategie vieler Unternehmen. Ein Faktor war laut Aeneas Wanner, Leiter von Energie Zukunft Schweiz, aber auch der Umstand, dass die Länderstabilität zu wenig berücksichtigt worden war. Dies wurde augenfällig beim Ausbruch der Arabischen Aufstände, als in den betroffenen Ländern Projekte abrupt blockiert wurden. Mehrere grosse Firmen – so etwa Siemens – zogen sich in der Folge zurück. Nach dieser Krise wurde die Geschäftsstelle der Dii von München nach Dubai verlegt.
Obwohl sich die ursprünglichen Pläne, Europa mit sauberem Strom aus den Wüsten Nordafrikas und des Nahen Ostens zu versorgen, nicht realisieren liessen, will Paul van Son nicht von einem «Scheitern» der Desertec-Vision sprechen. Ganz im Gegenteil. Zwar habe die Initiative zu Beginn noch zu stark auf den Export sauberer Energie nach Europa gesetzt, was einen neokolonialistischen Beigeschmack hinterlassen habe. Mittlerweile richte sich der Fokus aber auf die Eigenversorgung der betreffenden Länder mit sauberem Strom. Dies funktioniere ausgezeichnet.
Nun wird bereits der nächste Schritt aufgegleist: Nord­afrika und der Mittlere Osten sollen laut den Initianten von Dii Desert Energy zum «emissionsfreien Powerhouse für das postfossile Zeitalter» werden. Dabei geht es nicht nur um die Produktion von sauberem Strom, sondern auch um neue Arten der Speicherung – etwa in Form von Wasserstoff oder Methan – und des Transports – etwa in Pipelines oder auf Schiffen (siehe Kasten). Vorgesehen ist, dass ein gewisser Anteil dieses sauberen Stroms nach Europa exportiert wird.
Klar ist mittlerweile auch, dass die nähere Zukunft eher der Photovoltaik und dem Wind gehört und nicht der Solarthermie. Dennoch habe diese Technologie auch weiterhin «gute Chancen», sagt van Son. In den vergangenen zehn Jahren sei der Preis pro Kilowattstunde mit Photovoltaik erzeugtem Strom um den Faktor 7–10 gesunken. In Saudi-Arabien lasse sich heute eine Kilowattstunde für rund einen Eurocent erzeugen; ein unschlagbar tiefer Preis. In der Zukunft dürfte aber die Produktion von grünem Wasserstoff oder Methan immer wichtiger werden (siehe Kasten).

Eine Hoffnung für die Zukunft

Das mag alles etwas hoch gegriffen klingen. Klar ist aber: Gelingt ein Durchbruch der erneuerbaren Energien im Maghreb, könnte dies für das Alltagsleben von Mil­lionen von Menschen spürbare Auswirkungen haben. Der in vielen Regionen bereits drastisch spürbare Mangel an Trinkwasser liesse sich durch Meerwasserentsalzungsanlagen beheben, die mit Solarenergie betrieben würden. In all den Städten, die im Sommer unter grossen Hitzewellen leiden, liessen sich Hunderttausende von Klimaanlagen durch raffinierte Fernkühlsysteme ersetzen. Im Hinterland und in den kleinen Dörfern könnten Formen von dezentraler Energieversorgung zum Einsatz kommen. Nicht anders als in Europa bräuchte es für eine breit abgestützte Energiewende auch eine Ausbildungsoffensive. Auf solche Weise könnten unzählige Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Solarinstallateure und weitere Berufe geschaffen werden. Van Son ist überzeugt, dass so im besten Fall Hundertausende von Arbeitsplätzen entstehen könnten.
Es gibt wenig Bereiche, in denen sich die Interessen ­Europas und Nordafrikas derart weitgehend decken. Für den Maghreb wäre – neben den Vorteilen einer langfristig günstigen und nachhaltigen Energieversorgung – ein wirtschaftlicher Aufschwung und die Schaffung von Hunderttausenden neuen Arbeitsplätzen von allergrösster Bedeutung. Für Europa liesse sich hingegen auf solche Weise das Einverständnis der betreffenden Länder zu einer besseren Zusammenarbeit bezüglich der Kontrolle irregulärer Migrationsströme aus dem Maghreb gewinnen. Längerfristig könnte grüner Wasserstoff aus der Sahara zudem die europäische Energiewende unterstützen. Argumente genug, um die Energiewende im Maghreb entschieden voranzutreiben. Die Chance, den Maghreb innert eines Jahrzehnts zu einem solchen «emissionsfreien Powerhouse» zu machen, sollte nicht verpasst werden.